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Traumwesen oder Allegorien?

Die Menschheit weiß vermutlich mehr über die Geheimnisse des Weltraums als über die Tiefsee. Doch es gibt einen Ort, der noch unergründlicher und rätselhafter ist als beide zusammen: die menschliche Seele. Das zeigt auch Jan Jedenak mit seiner neuen Arbeit "Untiefe" am Leipziger Westflügel.

erschienen am 20.04.2023 von Thilo Sauer bei Fidena Portal

Warmes Licht fällt auf die Publikumsreihen. Es ist stark gedimmt, aber doch hell genug, dass der gesamte Bühnenraum, der mit schwarzem Stoff behängt ist, im Dunkel versunken scheint. Als es komplett dunkel wird, setzt der flächige Sound von Ekheo ein. Sein Klang erinnert an einen Akkord von Windböen, der an unsere Ohren getragen wird. Auf dem Bühnenboden erscheint ein Loch. Ein perfekter Kreis, so dunkel, dass er kaum von dieser Welt zu sein scheint. Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass dieser Kreis mit einem Beamer auf den schwarzen Boden projiziert wird, der sich mal kräuselt wie auf einer Wasseroberfläche, meist aber einen Ring mit klarer Kante bildet. Dieser Ring wird mal dünner, mal breiter, sodass an dessen Rand immer neue Gestalten sichtbar werden, die nacheinander aus dem Loch zu steigen scheinen.

Da liegt eine Person in halber Embryonalstellung, die bald von einem starken Zittern erfasst wird, als würde ein Albtraum sie durchschütteln. Kurz darauf taucht ein Gesicht auf, das schon lange getrauert haben muss, bis es ganz blutleer wurde. Für dieses Antlitz aus Hautfalten drückt der Spieler sein gesamtes Gesicht zusammen. Jan Jedenak ist ein Meister darin, die Grenze zwischen Körper und Objekt zu verwischen. Er selbst scheint zur Puppe zu werden, verwandelt sich ständig in neue Figuren. Auch das erstklassige Spiel mit Licht und Dunkelheit beherrscht er spätestens seit seiner preisgekrönten Arbeit „Séance“. Es ist faszinierend, wie Jedenak und Regisseur Jonas Klinkenberg immer wieder neue Figuren aus dem Dunkel auftauchen lassen.

Eine dieser Figuren steht unter einem Regenschirm. Versteckt sie sich oder wartet sie geduldig auf den Regen, der erst im letzten Drittel des Stücks fallen wird? In den Händen eines weiteren Wesens befinden sich Augen – oder sind es zwei Löcher wie jenes am Boden? Es erinnert an den Film „Pans Labyrinth“ und tastet sich suchend nach oben in Richtung der Lichtquelle. Zu einem anderen Zeitpunkt krabbeln zwei Hände wie zwei Käfer durch das Licht, ein Baby sitzt am rechten Rand des dunklen Lochs. Und dann taucht ein Ungetüm auf, dessen schwarze Haare den halben Körper bedecken (ähnlich dem Geist aus „The Ring“) und das wie der Inbegriff des Zorns auf der Bühne zetert. Die Figuren tauchen erneut auf, als würden wir uns durch verschiedene Ebenen der seltsamen Öffnung im Boden arbeiten. Plötzlich sitzt da wieder das riesige Baby, für das Jedenak sich eine Maske über den Kopf gezogen hat, und spielt mit einer seltsamen schwarzen Masse. Es erzeugt ein Gefühl von Bedrohung, wie dieses Wesen voller Unschuld und leicht verängstigter Neugier mit dem dunklen Schleim spielt.

Schließlich liegt da wieder die Person in Embryonalstellung vom Anfang, auf der nun überraschend (in Form einer Art Handpuppe) ein Hummer auftaucht. Ein alienartiges Wesen, das mit den roten Scheren durchaus bedrohlich wirkt. Allerdings streckt es sanft seine Fühler aus, um das Gesicht dieses Menschen zu betasten, der das Tier immer wieder wegschlägt. Vielleicht ein ungerechtfertigter Angriff auf ein Wesen, das auch als Symbol für die Auferstehung gilt – weil es in seinem Leben gleich mehrfach aus seinem Panzer hervorbricht und sich einen neuen wachsen lässt. Vielleicht zeigt es uns so aber auch, dass wir uns nicht zurückziehen müssen, sondern uns auch hin und wieder zeigen können, unsere Gefühle und Emotionen nicht immer unter einer Schutzschicht verstecken müssen. Vielleicht passt das Tier auch einfach an diesen Ort, immerhin leben Hummer meist in seichteren Gewässern, also Untiefen.

Es sind mysteriöse Figuren, die Jedenak und Klinkenberg entwickelt haben. Ob sie Traumwesen oder Allegorien oder einfach nur seltsame Monster sind, muss jede*r für sich selbst entscheiden. Doch sie scheinen aus den Tiefen der allgemeinmenschlichen Seele zu stammen. Jan Jedenak hat ein ungewöhnliches Wort für den Titel seiner neuen Produktion gewählt, wie es wohl nur in der deutschen Sprache existieren kann: Es bezeichnet einen Ort, der knapp unter der Oberfläche liegt, aber es verweist auch auf die nahe Tiefe, die gleich dahinter liegen könnte. „Untiefe“ bleibt rätselhaft: Jan Jedenak und Jonas Klinkenberg geben nicht nur keine einfachen Antworten, sie stellen nicht einmal klare Fragen. Das Stück ist eher eine Projektionsfläche, in die die Menschen im Publikum ihre ganz eigenen Ideen und Gefühle hineinlesen können. Dass ein Abend „zum Nachdenken anregt“, ist eine Floskel in der Theaterlandschaft geworden, die in Kritiken eher vermieden werden sollte, doch auf dieses Stück trifft diese Aussage im besten Sinne zu.

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