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Comic-Held aus Kafkas Welt

Aus Comicstrip wird Figurentheater: Morgen wird «Kratochvil» uraufgeführt

erschienen am 06.02.2003 von Bettina Kugler bei TAGBLATT

Auf eine «panische Reise» schickt Nicolas Mahler den Büromenschen Kratochvil im gleichnamigen Comic. Das Basler Figurentheater Vagabu bringt die schräg poetische Geschichte nun auf die Bühne - Uraufführung ist im Figurentheater St. Gallen.

Das Drahtmännchen mit dem Nasa-Koffer, das Christian Schuppli leise klirrend über das Bühnenpodest spazieren lässt - die lange Nase mal neugierig, mal panisch über die Dinge gebeugt, die ihm auf dem Weg durch die aus Draht gebaute Landschaft in die Quere kommen - hat seine Lektion gelernt. Ein typisches Gewächs der Bürowelt ist dieser Kratochvil. Er könnte aus einer Geschichte von Kafka herausgepurzelt und in der Ödnis gelandet sein. Nichts als Bäume, der Wind heult leise. Der Mond, ein Buttergipfeli am Draht von Philippe Minella bewegt, blickt stumm herunter und dreht ab in Richtung Sylter Nacktbadestrände. Ist er im Himmel? In der Hölle? Der erste Gedanke, der Kratochvil zu schaffen macht: «Wie soll ich hier bloß Arbeit finden?»

Skurriler Traumspaziergang

Kratochvil ist eine traurig-komische Kreatur des Wiener Künstlers Nicolas Mahler. Dass sie nun auf der Bühne des Basler Theaters Vagabu gestrandet ist und morgen im St. Galler Figurentheater das Scheinwerferlicht der Bühnenwelt entdeckt, verdankt sich einer Kette von Zufällen. Denn der Comic ist alles andere als Massenware. Abgedruckt wurde die Geschichte des seltsamen Traumspaziergangs erstmals in fünfzig Folgen auf den inzwischen eingestellten «Berliner Seiten» der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Zum Ausschneiden für Angefressene. Lediglich in Frankreich, dem gelobten Land der «bandes dessinées», ist «Kratochvils Welt» danach in Buchform erschienen - in einer Übersetzung, die dem eigenwilligen poetischen Humor der Vorlage gerecht wird. Und so fiel Kratochvil in die Hände des Basler Figurentheatermachers Christian Schuppli - seither werden die Figur und die in ihr verborgenen Ideen im Geist geknetet und geformt. Auf einer Party traf Schuppli den Musiker Pierre Cleitmann, der sich sofort für das Projekt begeistern ließ. Cleitmann hatte nicht nur die «Urmusik» für den einsamen Wanderer bereits im Kopf, sondern auch den passenden Regisseur. Mit seinem Freund Marc Feld holte er einen dritten Mann ins Boot, der in ungewöhnlichen Theaterexperimenten mit Objekten und Figuren erprobt ist. Theater von der Stange, Theater im konventionellen Sinn, interessiert den Pariser Regisseur wenig. Kratochvil von der kargen Oberfläche der Comicstrip-Quadrate in den Bühnenraum zu katapultieren, hingegen umso mehr. «Die Geschichte und die Art, wie sie erzählt und gezeichnet ist, ihr Witz und ihre poetische Reduktion rufen geradezu nach einer Version für Figurentheater», sagt Feld. Christian Schuppli wusste das bereits, als er im Basler Comic-shop das Buch durchblätterte. Und Pierre Cleitmann hat mit Abzählreimen und französischen Kinderliedern, mit verfremdeten Evergreens wie «O sole mio», begleitet auf dem Akkordeon, den passenden Sound für den musikalischen Kommentar gefunden.

Mit hängendem Drahtkopf

Der Stoff ist komisch und beunruhigend, philosophisch und zugleich wie eine Parodie auf existenzphilosophische Texte. Vor allem erzählt er eine Geschichte voll Überraschungen. Kratochvils Bühnenwelt ist eine Scheibe, von der er beständig herunterzufallen droht. Er stolpert über einen Baumstumpf und «schließt auf eine Holzfällerexistenz». Er stößt auf einen Wurmbau, kann der Lust nicht widerstehen, auf dessen Bewohner herumzutrampeln. Was folgt, ist das böse, böse Gewissen: ein hängender Drahtkopf, ein schlurfender Gang, der Fluch abertausender Würmer raubt ihm den Schlaf. Ein Albtraum, der in den Wurmbau der Psyche führt, lakonisch und kindlich einfach erzählt für Nicht-mehr-Kinder. Ein Wagnis, das den Spielort neu definiert und für Publikum interessant macht, das sonst seine Themen und Ausdrucksformen kaum im Figurentheater suchen dürfte. Auf Einladung von Slam-Poeten gibt Vagabu im April ein Gastspiel beim Luzerner Fumetto-Comic-Festival. Im Herbst ist eine französische Version in derselben Besetzung geplant. Dann wird Pierre Cleitmann in seiner Muttersprache den armen Bürowurm Kratochvil auf dem Weg begleiten. Klingen wird es genauso traurig. Und ebenso komisch mitleidslos.

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