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Das Leid der Welt ausbalancieren

Die Performance »Ken« von Smadra Goshen gastierte im Freeiburger E-Werk

erschienen am 01.10.2024 von Natalja Althauser bei Kultur Joker Freiburg

Eine Frau in Rot, die Hand zur Faust gehoben, den Mund weit geöffnet. Schreit sie? Oder ruft sie jemanden? Sie winkelt das Bein, streckt den Arm aus. Jede Bewegung ist geführt, aber auch eckig und krampfhaft. Man ahnt, wie viel Kraft es kostet, einfach so auf der Stelle auszuharren. Alle Gliedmaßen achtsam auszutarieren, als wolle man das Leid der Welt ein bisschen besser ausbalancieren. Wenn so etwas nur möglich wäre. Wenn wir uns alle ein bisschen mehr Mühe geben, uns alle ein wenig mehr anstrengen würden.

Und die Zuschauer? Beobachten sich selbst. Eine bodenlange, weiße Leinwand, die als Projektionsfläche für den Zuschauerraum dient, filmt direkt im Innern. Mitten unter uns.

Ein Schrei entfährt ihrem Mund. Vielmehr eine Aneinanderreihung von Tönen. Eine Sirene in knalligem Rot, die uns etwas über die Vergangenheit und die Zukunft erzählen möchte. Können wir sie hören? Wollen wir sie überhaupt verstehen?

Smadar Goshen ist eine ausgebildete Tänzerin und Performerin, die ihre Ausbildung an der Jerusalem Academy for Music and Dance in Israel absolvierte. Seit 2019 lebt und arbeitet sie in Stuttgart. „Ken" gehört zu ihren wenigen Soli, ein Großteil ihrer Arbeiten führt sie mit verschiedenen Gruppen durch. Übersetzt man „Ken" aus dem Hebräischen, bedeutet es „Ja" — ein „Ja" im Sinne der Akzeptanz, der Realitätserprobung und der Neugierde, sich an mehr als die eingetretenen Pfade zu wagen, sondern Neuland zu betreten.

In dem knapp fünfzigminütig andauernden Stück werden die Zuschauer unterschiedlichen Sequenzen und damit auch gänzlich unterschiedlichen Eindrücken und Bildern ausgesetzt. Da ist die Frau, die aus ihrem Schoß ein schwarzes Knäuel an Kabeln hervorzieht und in ihren Händen wiegt. Ist es ein Embryo, ein Wurfgeschoss, gar das personifizierte Chaos in dieser Welt, das in der nächsten Szene als adretter Kopfschmuck fungiert? Der graue Waschzuber auf dem Boden, ein ornamentfarbenes Tuch davor, in dem ein Messer eingewickelt war—ein Stillleben, das an eine jüdische Großmutter erinnert. Und dann wieder ein starker Beat, große, kraftvolle Bewegungen voller Trauer, Verlust und Verzweiflung.

In einem der letzten Teilakte entledigt sie sich ihres roten Rockes und während man noch über den Begriff der Scham grübelt, zieht sie eine knallgelbe, enge Leggings unter dem T-Shirt hervor, bricht zu Boden und robbt und zuckt, kriecht und kämpft sich über die beinahe leere Bühnenfläche. Den grauen Waschzuber über dem Kopf, das Messer umklammert, brüllt und schreit sie ihre Verlorenheit und Wut in die Welt hinaus, stolpert, strauchelt und stößt zur Tür hinaus. Man weiß nicht, ob man diese Kreatur dort fürchten oder Mitleid mit ihr haben soll, aber es gibt wohl kein passenderes Bild für die kopflose und blindwütige Spirale der Gewalt, die uns seit vielen Monaten in Nahost und anderen Teilen der Welt begegnet. Smadar Goshen arbeitet mit wenig, die Bühne ist beinahe leer, aber die Art, wie sie die einzelnen Gegenstände und ihren Körper einsetzt, ist präzise und exakt. Kraftvoll und verletzlich, voller „Empowerment" und dennoch versehrt. Die wenigen Sätze, die über die Lautsprecher eingespielt werden, untermauern diese Widersprüchlichkeiten, mit denen sie arbeitet: Stillstand und Erstarrung bei gleichzeitiger Rastlosigkeit, Suche und einem intrinsischen Terror, in dem die Todesangst zum Ende hin spür-, ja erlebbar wird.

„I know time will keep on moving even though I'm standing still. Still as in stillness, as in steel helmets, as the stolen hours since then."

Wenn man dem schwarzen Knäuel, dem Terror, doch auch einfach das Herz mit dem Messer herausschneiden könnte, doch so einfach ist es nicht. Das Chaos hat seine eigene Struktur. Seine eigene Physis. Es lebt in uns weiter, auch viele Tage, Monate und Jahre später webt sich Schock in jede unserer Zellen hinein und lebt und arbeitet in der DNA weiter. So leben, ja weiterleben zu müssen, ist anstrengend. Jeder Atemzug kostet Kraft.

Wenn sie nach ihrem Aus- und Zusammenbruch erneut die Bühne betritt, wechselt sie die Seite und stellt sich mit ihrer erhobenen Faust und dem zum Schrei geöffneten Mund in den Zuschauerraum hinein. Die Bühne ist leer. Wer betrachtet hier wen? Keiner von uns ist nur Zuschauer. Wir sind alle beteiligt, wir sind mitten drin.

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