Endstation Echtzeit - Yvette Coetzee, Thomas Meile und andere befragen die Zeit im ._ , Theaterdiscounter
erschienen am 9.4.09 von Christian Rakow bei Nachtkritik.de
Berlin, 4. Juli 2009. Atemlos und schwitzend, in ärmellosem Shirt tritt der Performer Florian Feisei nach der Hälfte des Abends vor und gibt mit einem selbst gebastelten Abreißkalender Bericht von seinem Schauspieleralltag. "Am 30. Juni hatten wir Probe, und am 1. Juli auch" und so fort. "Heute ist Premiere - aber ich muss genauer werden." Und er beginnt die letzten 24 Stunden abzureißen, dann die vergangenen 10 Minuten, dann endlich die Sekunden. Wir rasen in die Gegenwart, und er triumphiert: "Jetzt bin ich in der Echtzeit!"
In der Echtzeit schwindet das Erzählen, die Hektik nimmt zu; der Sinn verkommt im Blätterrauschen der Kalendersekunden. Dieses ist einer der raren Momente, in denen die Ambition dieser Inszenierung spielerisch und klar aufgeht: Die Beschleunigung des (post-)modernen Lebens wollte sie spürbar machen, von den Einbußen an Rhythmus, Ordnung und Bedeutung im Beruflichen wie Privaten erzählen. "Tempus fuck it!", hieß das einmal bei ' Philipp Löhle. Verfluchter Sog der Zeit.
Unterwegs mit zwei brennenden Berufswracks
Für ihr Crossover-Projekt "Endstation Echtzeit" hat die südafrikanische Schauspielerin und Regisseurin Yvette Coetzee eine internationale Gruppe von Schauspielern, Tänzern und Puppenmachern zusammengerufen. Unter dem Namen "Wonderful Catastrophe" treten sie an thematisch idealer Spielstätte auf - im alten Fernmeldeamt nahe am Alexanderplatz, das der Theaterdiscounter (seit nunmehr sechs Jahren eine der wichtigsten Spielstätten für die Freie Szene in Berlin) Anfang 2009 bezogen hat.
Textliches Futter kommt vom Erzähler und Dramatiker Thomas Meile. Er hat um die Geschichte eines Autounfalls herum ein paar nervöse Monologe zweier ausbrennender Berufswracks zusammengeschweißt: Sie (Mechthild Barth) ist eine sexuell frustrierte Nachrichtenredakteurin. Er (Martin Molitor) stellt berufsmäßig Versicherungsbetrügern nach und gaukelt uns eher maskenhaft sein prima Privatleben und die Lust am Job vor.
Beschleunigung und Einbußen
Thomas Meile, 2006 beim Ingeborg-Bachmann-Preis vertreten, legt Wert auf die Feststellung, dass es sich bei der Textvorlage keineswegs um ein eigenständiges, originäres Werk handelt, sondern vielmehr um einen Steinbruch für die Performance. Man mag ihm also manch prosaische Wendung nachsehen ("Eine Abmachung lag in der Luft und materialisierte sich im Moment"), manch Überspanntheit ("Das Tempo zickt und zackt aus mir heraus"), manch trübe Plattitüde : ("Meine Stimme klingt umso fremder, je lauter ich rede").
Weniger vital sind die Performanceeinlagen, die die Schauspieler im Verbund mit zwei äußerst verhaltenen Tänzern (Josephine Evrard, Clement Layes) produzieren. "Go!", heißt es regelmäßig, und schon laufen alle aufgeregt hin und her, stapeln Wasserkisten und Styroporverpackungen oder bauen ein Crashtestdummy auseinander und wieder zusammen. Bei "Stopp!" ziehen sie sich in den Hintergrund zurück. Dann wiegt sich nur noch leicht ein riesiger Luftschlauch rechterhand (Bühne: Jelka Plate). In den Worten der Spielvorlage: "Das ist der Lauf der Zeit, und der Stand der Dinge lacht sich kaputt." ;
10 Bar aus der Druckluftkanone
Die hohe Schule des hippen, neuesten Zeitmanagements entdecken wir einzig an der Bühnenrückwand. Dort hat sich der Musiker Matthias Herrmann mit Drums, E-Gitarre, Keyboard, Soundmaschine und Laptop sein eigenes Mini-Studio eingerichtet. Mit fabulösem Multitasking legt er sich immer wieder verschiedene Instrumente und Rhythmusspuren in den Loop und generiert einen äußerst eindringlichen Klangteppich, mal softe Progressive-Rock-Anleihen, mal Elektro-Punk.
Auf den intensiven Punkmoment der Performer muss man bis zum Finale warten: "Ich habe mein Leben nicht mehr im Griff", heißt es da. Und dann passiert sie doch noch, die "wundervolle Katastrophe". Mit 10 Bar aus einer Druckluftkanone wird der Crashtest-Dummy gegen die Wand geschossen, so dass er schnell und krachend und bis auf weiteres zerschellt.