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Der Mensch als großer Kreateur

Uraufführung „Die zweite Realität“ von Meinhardt Krauss Feigl im Fitz - Akteure des bizarren Spektakels sind per Infrarot verbunden

erschienen am 30.09.2016 von Petra Bail bei Esslinger Zeitung

Stuttgart - Können Steine Töne erzeugen? Bei Meinhardt Krauss Feigl gelingt das spielend. Zumindest sieht es so aus, wenn drei Personen kiloschwere Brocken über den Boden schieben und dadurch helle Lichtspuren auf dem dunklen Grund und elektronische Klänge hervorbringen. Der Mensch als großer Kreateur, der die Richtung vorgibt und dem die Technik folgt - oder ist es andersherum, wenn aus den Körpern geometrische Gebilde werden, die sich wie Spinnen in einem virtuellen, sich bewegenden Gitternetz entlanghangeln? Eindrucksvoll verschmelzen verschiedene, bisher nebeneinander existierende Realitäten zu einer großartigen Live-Performance aus Tanz, Licht und Sound. „Die zweite Realität“ ist der letzte und absolut sehenswerte Teil der Tetralogie zum Katalog der „großen Kränkungen der Menschheit“ nach Sigmund Freud der Stuttgarter Gruppe Meinhardt Krauss Feigl.

Die Stuttgarter Spezialisten für Theater und Medien haben die letztjährige, sinnfällige Produktion „Als ES über uns kam“, noch getoppt: mit noch mehr fiktionaler Welt, noch höherem technischen Anspruch. Mittelpunkt der „zweiten Realität“ ist eine aufwendige Video- und Soundtracking-Software, die es drei Tänzerinnen erlaubt, neue virtuelle Bühnenräume zu eröffnen. Durch unzählige Codes und komplizierte Programmierung bekommt der Zuschauer ein Theatererlebnis in 3D, das die Akteurinnen mittels Infrarotverbindung selbst schaffen: sie reagieren nicht auf vorproduzierte Bilder, sondern ihre Bewegungen gestalten die verstörend schönen Klangbilder. Die kleinste Geste löst Licht- und Toneffekte aus. Die dreidimensionalen Echtzeit-Projektionen wurden von Berliner Profis für interaktive Erlebniswelten geschaffen, die sich pmd-art nennen.

Verpixelte Leiber

Erstmals steht die Figurenspielerin Iris Meinhardt nicht selbst auf der Bühne. Sie führt gemeinsam mit Michael Krauss Regie und von ihr stammt die Choreographie für die Tänzerinnen Alexandra Mahnke, Sawako Nunotani und Alexandra Brenk. Meinhardts Stimme kommt aus dem Off. Sie spricht den poetischen Text der dänischen Lyrikerin Inger Christensen, den Dramaturg Robert Atzlinger als wohltuenden Gegenpol zur hochtechnologisierten Realitätsebene gesetzt hat, die Sinne und Auge so kunstvoll verwirrt, dass dem Premierenpublikum immer wieder Laute ungläubigen Staunens entfahren.

Verpixelte Leiber, Formeln und Zahlenkolonnen auf Armen und Beinen, Körper mit Bildern negativ belichtete Riesen-Grashalme - Oliver Feigls ausgetüftelte Videoprojektionen geben dem bizarren Spektakel einen schönen Schein. Dazu Thorsten Meinhardts Live-Sound, der genau wie die Projektionen auf jede Bewegung der Tänzerinnen reagiert und manchmal bis an die Schmerzgrenze reicht. Man hört Wasserplätschern, wenn eine Akteurin mit den Händen in kreisförmigen Bewegungen über den schwarzen Boden streicht und dort aus dem Nichts ein kleiner See entsteht - zumindest audiovisuell.

Grafische Muster werden zu dreidimensionalen Figuren, klettern die Rückwand der Bühne hinauf und kippen dort plötzlich in eine weitere Ebene. Körper verschlingen sich und mit ihnen die darauf abgebildeten Wabenmuster, wachsen in die Höhe, ziehen sich in die Breite zu archaischem Schaben und Knirschen. Alles Illusion - optische Täuschung mit Perspektive, Graffiti ohne Spray. Die Sinne sind eine Stunde lang gefordert.

Ernste Fragen

Was passiert im Zeitalter der Digitalen Revolution mit dem Menschen? Dem spürt das Fitz in der neuen Spielzeit unter dem Motto „Möglichkeit Mensch“ nach. Menschliche Kreativität maschinell reproduziert - Alptraum und Vision zugleich. Meinhardt Krauss Feigl vergleichen die Bedrohung aus der IT-Welt mit der von Freud beschriebenen für das „Ich“. Eine Interaktion von Mensch und Technik ist faszinierend. Aber was geschieht, wenn eines Tages künstliche Intelligenz sein wird? Schon jetzt gibt es lernfähige Maschinen. Welche Möglichkeiten bleiben der durch langsame biologische Evolution gehandicapten Menschheit? Das sind die ernsten Fragen hinter dem grandiosen Theatererlebnis.

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