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Faszinierende Erneuerung eines Theaterklassikers

Faszinierende Erneuerung eines Theaterklassikers

erschienen am 15.03.2025 von Florian L. Arnold bei Neue Ulmer Zeitung

Woyzeck" von Georg Büchner ist ein Dramenfragment aus dem Jahr 1836 und dennoch aktuell wie am Tag seiner ersten Aufführung. Es geht um einen Menschen, der von seiner Umgebung ausgebeutet wird. Büchners Drama ist eine Sozialstudie, zugleich eine Art Psychogramm einer geschundenen Kreatur, die zum Äußersten getrieben wird. Ein harter Stoff, der in Schulen immer noch als Abiturstoff verhandelt wird. Im Roxy war er in einer neuen Fassung zu erleben.

Büchners Original geht so: Woyzeck hat mehrere Jobs und kommt doch kaum über die Runden. Er ist Soldat, Diener seines Hauptmanns und stellt sich für obskure medizinische Experimente zur Verfügung. Alles lässt er über sich ergehen, um für seine Geliebte, Marie, zu sorgen. Doch das Leben schenkt dem rechtelosen Woyzeck nichts. Als Marie dann mit dem Tambourmajor anbändelt, findet Woyzeck keinen anderen Ausweg als den Mord an der Geliebten und die Flucht. Sein Kind überlässt Woyzeck dem Narren.

Regisseurin Iris Keller hat mit ihrer Gruppe „puls_de_kern" diesen Klassiker durch Elemente des Figurentheaters und behutsamen Modernisierungen in die Gegenwart geholt und im Roxy für Erwachsene wie auch für Schulen auf die Bühne gebracht. Schon der Beginn ist anders, als man es kennt: Die Darsteller befinden sich in einer Art minimalistischen Jahrmarktsszenerie, übertrieben heitere Varietémusik dudelt, die Zuschauer werden eingeladen Platz zu nehmen. Marius Kob in Lederkluft kanalisiert einen dämonischen Theaterleiter, Schauspieler und Musiker Marius Alsleben kommentiert als „Narr" den Einmarsch des Publikums. Die „Woyzeck Creature"-Show hat begonnen.

Anne Brüssau tritt als Woyzeck auf, mit einer wunderbar ausdrucksvollen Eselsmaske. Sie wird Woyzeck in seinen verschiedenen Rollen subtil darstellen, als Liebhaber, Freund, Untertan, Gedemütigter, als Medizinexperiment. Das Stück ist auf 60 Minuten Spielzeit verdichtet, die dank eng verzahnter Szenen aus Schauspiel und Maskentheater eine beklemmende, zugleich faszinierende Unentrinnbarkeit entfesselt. Der Clou sind dabei neben der Herausarbeitung der schon dem Originaltext zugrunde gelegten Tier-Symbolik auch die lebendigen Masken Jan Vagners. Die Inszenierung spart Büchners verbale Drastik nicht aus, verknappt sie aber auf die Essenz. Die Demütigungen Woyzecks werden durch den Wechsel der Masken besonders eindringlich, betonen zugleich die Würde des Opfers.

Die Katzenmaske, mit der Marie auftritt, ist ein hoch ästhetischer Katalysator für dramatische Momente wie diesen, als Woyzeck von Marie zurückgewiesen wird. Sie faucht katzenhaft, wird dann wieder Mensch und wirft ihm diesen Satz hin: „Ich hätte lieber ein Messer im Leib als deine Hand auf meiner." Marius Alsleben treibt in der Figur des Narren die Inszenierung mit Ansagen und Liedern gewitzt voran, während Brüssau und Kob durch intensives Spiel begeistern. Mit dem versatilen Soundtrack aus Live-Musik, Samples und Lauten von Marius Alsleben geht das Stück schließlich ins schreckliche Finale, wenn Woyzeck mit den Worten „Stich! Stich!" Marie tötet. Gänsehaut ist bis zum letzten, beklemmenden Bild garantiert, wenn der Mörder Woyzeck langsam in roten Nebeln versinkt.

Iris Kellers „Woyzeck Creature"-Show ist eine fabelhafte Neufassung des historischen Dramas. Der stete Wechsel der Masken, der oft auch einen Rollentausch mit sich bringt, gelingt perfekt und erzeugt frische Perspektiven dieser beklemmend aktuelle Parabel auf den zum Tier entwürdigten Menschen. Das Stück ist geradezu ideal geeignet, um junge Menschen an historische Theaterstoffe heranzuführen. Und tatsächlich hat Keller, die in Ulm den Förderpreis für junge Kunst in der Sparte Theater erhielt und auch Freie Mitarbeiterin der Neu-Ulmer Zeitung war, anderthalb Jahre in Entwicklung und Recherche gesteckt. In Schulklassen hielt sie Workshops zum Thema ab um herauszufinden, wie junge Menschen mit Büchners Text umgehen. Seit Oktober 2024 ist die Truppe nun mit dem Stück unterwegs. Eine hervorragende Theatererfahrung für jede Altersgruppe und eine unvergesslich Verneigung vor Büchners genialem Werk

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