erschienen am 14.06.2008 von bei Stuttgarter Nachrichten
Dass er Jungs liebte und sich dabei gut fühlte, hatte Marius nur seinem Tagebuch anvertraut. Jetzt ist der 15-Jährige tot, und die Mutter will alles verbrennen, was an ihn erinnert. Doch der zwei Jahre ältere Bruder Luk rettet 'die Aufzeichnungen des Verstorbenen und erlebt bei der Lektüre seine Ängste vor der eigenen Homosexualität.
"Bruder" heißt die als Koproduktion mit dem Fitz und der Schaubude Berlin entstandene Objekttheater-Performance des Tübin ger Wonderfool Theaters. Nach dem Erfolgsroman des niederländischen Autors Ted van Lieshout entstand eine hochmusikalische und expressive Reflexion über das schwierige Erforschen der eigenen Identität.
Regisseur Enno Podehl choreografiert diese Spurensuche mit geheimnisvollen Bildern des Unterbewussten, die er in zart-pulsierende Klangkommentare einbettet (Musik: Stefan Mertin). Wenn diese Komposi tion aus Sprache, Musik, Projektionen und Material die spannenden Porträts zweier Jugendlicher zwischen Unsicherheit und Selbstbewusstsein entstehen lässt, ist dies vor allem ein Verdienst des Spielers und Ausstatters Christian Glötzner.
Stimmlich differenziert, konturiert er die Unterschiedlichkeit der beiden Brüder. Besonders gut gelingt das Spiel mit Objek ten aus weißer Plastikfolie, die bei jeder Bewegung knistern und knattern - Symbole der Widerstände, welche die Brüder bei ihrer Annäherung post mortem überwinden müssen.
Aufklärungsbücher im Kinderzimmer-Iglu
Krampfhaft sucht der verhuschte Luk nach seinem Ich, wenn er sich die Selbstsi cherheit des toten Bruders einverleiben will, indem er sich mit dessen störrischer Ja cke zu vereinen sucht. Oder wenn er ein Tuch zum Kinderzimmer-Iglu macht, um unbeobachtet Aufklärungsbücher über Homosexualität zu lesen.
Besonders gut gelingen Glötzner Bilder pubertärer Sehnsüchte nach Freiheit und ei nem Gegenüber: Er formt Papierbahnen zu riesigen Flügeln oder schneidet aus ihnen ei nen Tanzpartner. Die Projektionen eines Beamers leuchten in die Tiefen jugendlicher Seelen. Zu entdecken ist das Bedürfnis nach Nähe: Gefühle der Zärtlichkeit erscheinen als filigrane Korallengebilde. Das Wasser in einer kleinen Glasschale wird, riesenhaft vergrößert, zum romantischen See. Angepus tet, tanzen auf seiner Oberfläche die Scherenschnitte der Köpfe zweier Jugendlicher. Sie treffen sich zum scheuen Kuss und ver lieren sich wieder. Solch hingetupfte Impres sionen der Annäherung machen diesen anspruchsvollen Abend sehenswert.