Menü

Kopfgeburten an Fäden

erschienen am 21.11.2011 von Armin Knauer bei Reutlinger Generalanzeiger

In einer schattigen Szenerie fließen Sprache, Figurenspiel, Klänge und Video zusammen und öffnen Blicke in die Seelenlandschaft des Bildhauers und Dichters Alberto Giacometti. Die aufwendige Inszenierung ist eine Kooperation mit dem französischen Ensemble »Compagnie Bagages de Sable« und dem Schweizer Theater Stadelhofen. Schauspieler Patrick Michaelis verkörpert den Künstler Giacometti und spricht dessen Texte: Erinnerungen und Szenen, in denen Realität und Imagination verschwimmen. Bilder aus der Kindheit steigen auf, von einem Felsen, der Geborgenheit bot; und Bilder vom anderen Ende des Lebens, als ein Freund stirbt und der tote Körper Grauen verbreitet. Zwischendurch verliert sich die Sprache in Verrücktheit, auch Abgründe der Grausamkeit tun sich auf. Michaelis zieht mit seiner Sprachkunst samt französischem Akzent bezwingend in den Bann dieser Innenlandschaften. Er steckt dabei körperlich oft tief in einem hüfthohen Aufbau, der die Bühne einnimmt (Bühne: Sabine Ebner). Soehnles Figurenspiel macht die Gestalten dieses Zentrums sichtbar. Als fragile, skelettartige Marionetten umflattern sie den Künstler, während er seine Fantasien vorüberziehen lässt. Von Soehnle auf der Bühne offen gespielt, wirken diese Figuren wie Gestalt gewordene Kopfgeburten Giacomettis. Die Innenwelt-Szenerien beleben sie wie ein Totentanz: Da rekelt sich eine mondäne Dame mit Blütenkopf in einem Weinglas; zwei Knochenmänner spielen Trampolin im Schallbecher zweier Alphörner; ein lebendes Hemd wirft sich dem Künstler mit Knochenarmen um den Hals; und schließlich verwandeln sich die Schallbecher der beiden Alphörner in leere, tote Augenhöhlen. Die beiden Musiker Jean-Jacques Pedretti und Robert Morgenthaler leuchten diese Seelenlandschaften auf ihre Weise aus: mit raunenden Alphörnern, wispernden Muschelhörnern und fantasievoller Perkussion. Und wenn sich Soehnles Figuren zu Tänzen aufschwingen, wiegen sich zwei Posaunen im Jazz-Walzer. Schlaglichter des Geschehens werden per Videokamera auf den Bühnenhintergrund projiziert und dort mit live geschriebener Schrift überblendet (Technik: Christian Glötzner). Diese filmische Ebene ergibt ein Kunstwerk für sich. Und so fließt hier alles in einer rätselhaften Atmosphäre zusammen: die geheimnisvollen Lichtstimmungen, die karge und klare Sprache, die ungreifbaren Klänge, die fragilen Figuren und die Videoebene mit ihren Nahaufnahmen von Sand, Kreideschrift und schrundiger Haut. Szenen, so rätselhaft wie die Seele des Künstlers – mysteriös und faszinierend.

Betrifft: