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Mensch und moderne Wissenschaft

Wilde & Vogel machen Mary Shelleys Roman zum Figuren-Menschen-Experiment.

erschienen am 01.10.2017 von Tobias Prüwer bei Fidena Portal

„Daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“ Den Philosophen Michel Foucault trieb die Frage um, wie die moderne Wissenschaft unser Bild des Menschen geprägt hat – und unter welchen Umständen und Kontexten es sich verändert. Wie weggewaschen wirkt das menschliche Antlitz am Schluss der „Frankenstein“-Inszenierung am Westflügel Leipzig. Zu Fragmenten zusammengeschmolzen liegt die Wachsmaske auf dem Tapet, das zuvor als Operationstisch und Scharlatanbühne diente. Nun bietet es die Plattform für ein Memento-mori-Stillleben am Ende dieser theatralen Suchbewegung nach dem Menschen. Unter Feuerzungen tropft das Wachsgesicht am Eisufer verschwindend zu Boden.

Genaugenommen richtet Mary Shelleys Gruselroman den Blick wie Foucault auf das Verhältnis von Mensch und moderner Wissenschaft. In ihm verquicken sich neugieriges Naturinteresse und faustische Allmachtsfantasien. Und das Figurentheater-Team wiederum nahm Shelleys Prosastudie sehr genau. Eng an der Chronologie der Vorlage hangeln sich die vier Spielenden (Winnie Luzie Burz, Jan Jedenak, Michael Vogel, Stefan Wenzel) und zwei Musiker (Johannes Frisch, Charlotte Wilde) entlang. Dafür fällt ihre Übersetzungsleistung, die sie zusammen mit Regisseur Hendrik Mannes erarbeitet haben, in den Assoziationsketten umso freier aus. Ihr Spiel scheint selbst einem Versuchsfeld entsprungen zu sein und ebenso sieht die Bühne mit den über sie verstreuten Apparaten aus.

In neun Stationen – zwischen Frankensteins Erstversuch, einen Homunkulus zu animieren und dem flammenden Untergang von Kreatur und Schöpfer im ewigen Eis – zeigen sie die Handlung. Die Frage nach demiurgischem Walten, nach Verhältnis und Zusammenhang von Schöpfer und Geschöpfen, die nicht zufällig eine Kernfrage des Figurentheaters selbst ist, wird dabei vielfach gewendet.

Der Abend beginnt als anatomisches Theater: An einem Spielerkörper untersuchen die anderen als Leiberensemble agierend die menschliche Physis. Wie Objekte werden seine Extremitäten animiert, die Textpassagen nach dem Vortragen ausgerissen und wie die Beschwörungsformeln beim Prager Golem sich gegenseitig in den Mund gelegt. Mit Klebeband wird der Körper vermessen, die transparente Folie zeigt sich als Zerrbild jene Nähte, mit der Frankenstein seine Monster genannte Kreatur zusammenstückelte.

Nur kurz schimmert das Wesen so auf, meist spricht es aus dem Off, kommen nur Vorstellungen seines Aussehens auf die Bühne. Das ist konsequent, immerhin charakterisiert Shelley es als belesen und feinfühlig – wenn es seinen Willen oder besser: ein Objekt für seine Begierden bekommt. Doch eine Gefährtin will Frankenstein ihm nicht gönnen. Wie das Wesen seine Sinne entdeckt und damit zu Selbsterkenntnis gelangt, mag ein Beispiel geben für das Vorgehen des Ensembles: Eine Eule mit glühenden Augen wird über die Bühne geschoben, auf einer Kochplatte Kräuter – ist das wirklich kein Marihuana? – angekokelt, in einem Brunnen schmeckt jemand Wasser, ein anderer tastet seinen Körper ab und das Hören besorgt die Musik.

Mal tauchen kleine Stabmarionetten auf, dann eine Gliederpuppe und viele Masken kommen zum Tragen. Aber insgesamt lebt der Abend von den bewegten Objekten und Klängen. Die Live-Musik aus Gitarren- und Bassspiel sowie allerlei Tonexperimenten gibt einige Struktur vor. Kleiner physikalischer Budenzauber wie Elektroblitze reichert die Szenerien an, alles wird aber bestimmt von der sichtbaren Lust am gemeinsamen Spiel. Lässt man sich von der anstecken, dann zaubert Shelleys entfesselter Prometheus allen anwesenden Menschen ein Lächeln ins Gesicht.

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