„Crinkeled – zwei Leben – gefaltet, zerknittert, geknüllt“ im Figurentheater Stuttgart
erschienen am 05.03.2016 von Brigitte Jähnigen bei Stuttgarter Nachrichten
Lebendig, fragil, vergänglich: Der Umgang mit dem Material Papier in der Kunst reizt. War es kürzlich Antje Töpfer, die im Figurentheater mit ihrer Produktion „3 Akte“ dem Papier und da im Besonderen der japanischen Falttechnik Origami Bedeutung verlieh, so ist es jetzt Alice Therese Gottschalk.
Eine wundersame Stunde lang erweckt sie Papierenes zum Leben. Der Faszination von Licht und Schatten folgend, werden unterschiedlich positionierte Leuchtquellen aktiviert. Und gleich zu Beginn – die Musikerin und Arrangeurin Anja Füsti macht zur Premiere zu laut auf sich aufmerksam – schwebt, von Marionettenfäden bewegt, eine aufgerollte Fahne aus Papier über die Bühnenmitte. Es knistert und rauscht, Schattenvögel geistern über das großformatige Blatt, eine figürliche Marionette tanzt auf einem Pinselbein im Farbtopf, versucht sich in Kalligrafie, wiegt sich im Lichtspiel. Kleine Papierballons werden zu Puppen, tragen rote Schühchen an überlangen Beinen, stöckeln wie Grazien auf dem Boulevard. Jetzt hat auch die Musikerin ihren Groove gefunden, weckt auf ihrem Instrumentarium aus Holz, Metall und Bambus einen asiatisch-europäischen Sound, ist Impulsgeberin und Begleiterin.
Komödiantisch zaubert Alice Therese Gottschalk mit Maske und wundervollem Gewand als chinesische Alte zwei armlange Wesen aus ihren Rockbahnen, die sich, so bald sie den Schoß verlassen, als höchst eigenständig erweisen. Frank Soehnle führt Regie in diesem papierenen Fantasiereigen aus Abstraktion und Figürlichkeit, Evelyne Meersschaut hat den beiden Spielerinnen asiatisch inspirierte Roben geschneidert. Meditativ, assoziativ wirkt die Szenenfolge auf das Publikum, nicht alles erklärt sich im Moment – welche Bedeutung kommt etwa der Figur zu, die Alice Therese Gottschalk mit Maske und Schal aus zerknittertem Papier in einer Schauspielerrolle einnimmt?
Cai Lun, ein chinesischer Beamter am Kaiserhof, soll es gewesen sein, der um 105 v. Chr. Papier aus dem Bast des Maulbeerbaumes herstellen ließ. Das Material war fest und eignete sich nicht nur zum Schreiben. Auch Dekorationsgegenstände und Kleidung wurden aus ihm produziert. Deutschland war spät dran. Erst 1389/90 stellte man hierzulande das erste Papier in einer Mühle bei Nürnberg her. Mit ihrem historischen Rückgriff auf ein wunderbares, wandelfähiges Material rücken Künstler das Papier wieder stärker ins aktuelle Bewusstsein. Restlos begeistert ist das Publikum, als Figurenspielerin Gottschalk ein höchst fragiles Wesen an einer Kerze abfackelt – in einer Metamorphose entsteigt ihm ein schwarzer Phönix.