Premiere im Figurentheater Stuttgart: „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“
erschienen am 07.11.2015 von Brigitte Jähnigen bei Stuttgarter Nachrichten
„Prost uff Paule“, Fusel für alle, und zu Hause wartet Mutter. Betrunken, vom Austragegeld für Zeitungen eine einzige Münze in der Hosentasche, so findet die alte Frau ihren Sohn vor der Kneipe. Bedrückt geht sie, von ihrem Puppenspieler geführt, nach Hause.
Es ist ein groteskes, todtrauriges Spiel, das Claudia Engel und Matthias Ludwig in der Regieführung durch Hendrik Mannes für ihre kindergroßen Protagonisten erdachten. Frei nach dem Stummfilm „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ von Phil Jutzi aus dem Jahr 1929 wird die Geschichte der Bewohner einer Mietshauswohnung im Berliner Hinterhof Anfang des 20. Jahrhunderts erzählt. Zentrale Figur ist Mutter Krausen. Große Augen, gerunzelte Lippen, schlaffe Spitzbrüstchen, Haarknolle, wadenlanges Blümchenkleid – wann immer Engel und Ludwig die Figur ins Spiel bringen, weckt sie Sympathie.
Die rasante Bilder-, Wort-,Ton- und Geräuscheflut produzieren Claudia Engel, Matthias Ludwig und Michael Hiemke (am Fitz-eigenen Blüther-Piano) vor den Augen des Publikums in sieben Szenen. Als Bühne auf der Bühne dient ein mobiles Metallgestell, an dem die Figuren nach ihrem Auftritt per Magnet in diversen Positionen und „Rängen“ als Beobachter des weiteren Geschehens angeheftet werden. Gesprochen wird nicht. Blitzschnell und leichtfüßig-tänzelnd werden aber Pappschilder mit Texten im Berliner Slang präsentiert, die Figuren wie Archetypen (eine großbusige Prostituierte, der smarte Schlafbursche, das zarte Töchterlein im roten Fummel, ein blasses Kind, der Arbeiter Max mit breiter Brust und der orientierungslose Sohn) an Knubbelgriffen bewegt und in die Handlung gebracht. Es wird geliebt, becirct, sich gekloppt, es wird gestorben.
Trotz des enormen Tempos entwickelt sich die Handlung angenehm gemächlich, köstlich ist eine proletarische Demonstration mit handgroßen Figuren – allen voran die Fahnenträgerin –, die auf ein altertümliches, elektrisch betriebenes Laufband gesetzt werden. Michael Hiemke intoniert dazu die „Internationale“. Mit dem Schild „Mutter braucht 20 Mark“ spitzt sich die Dramatik zu. In einer bösen Szene sucht ein schniefender, schwabbeliger Freier seine Lust bei Mutters Töchterlein. Vergeblich. „Nee, so schnell geht das nicht“, heißt der Text auf der nächsten Großpappe. Armut ist grausam. Was bleibt, ist der stumme, verzweifelte Protest. „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ sollte man nicht verpassen – das Stück ist an diesem Samstag um 19 Uhr noch einmal zu sehen.