Im Theaterdiscounter hetzen Figuren der »Endstation Echtzeit« entgegen
erschienen am 07.07.2009 von Volkmar Draeger bei Neues Deutschland
Am neuen Spielort des Theaterdiscounters - im einstigen Großraumbüro eines Fernmeldeamts an der Klosterstraße - streben sieben Akteure verschiedener Genres der »Endstation Echtzeit« entgegen. Darin thematisieren sie, was wir alle wissen: dass die Zeit kaum mehr reicht, um zu bewältigen, was an Aufgaben täglich über uns hereinbricht. Aktion läuft bereits bei Eintritt. In scharfem Tempo ordnet man chaotisch Gegenstände um, Rollen mit Silberfolie, Kästen, Kartons, Wasserflaschen, Styroporformen; einer kurvt beschleunigt auf dem Skateboard umher, inmitten aller Hektik liegen Arme, Thorax, Beine, Kopf einer weißen Gliederpuppe. Sie allein hat Zeit. Die Worte »Stop« oder »Go« stoppen den von Rhythmus-Computer und E-Gitarre live begleiteten blindwütigen Aktionismus, starten die Versatzstücke hektischen Tuns jeweils neu.
So gliedert Regisseurin Yvette Coetzee ihre 70-Minuten-Zeitsuche, in der die Schauspieler Martin Molitor und Mechthild Barth quäntchenweise die Story ihrer Figuren erzählen, wie Thomas Melle sie ersonnen hat. »Hier ist was passiert, der Bremsweg ist zu lang«, schreit Molitor aufgeregt aus seiner Nackenstütze heraus, doch die, die gerahmt von Gerümpel und verrenkt wie Unfallopfer liegen, verstehen ihn nicht. Dann lassen alle gemeinsam die montierte Gliederpuppe an der Wand zerbersten, simulieren einen Unfall. Den gibt es im Stück jedoch erst gegen Schluss, ohne dass man die näheren Umstände erfährt.
Dafür porträtieren sich die Figuren in gehetzt, bisweilen mit expressionistischer Verknappung hingeworfenen Puzzleteilen, aus denen man seine eigene Version basteln kann. Mein Arbeitsplatz ist sicher, verkündet Molitor, schließlich arbeite er in einer Versicherung, nehme auch am Versicherungsbetrug teil, und auch daheim sei alles in Ordnung. Pfeilschnell fährt er gern Auto, fühlt sich da wie im Vakuum, mit der Zeit hinter und vor sich. Barth schwärmt in zunehmender Rage vom Geschwindigkeitsrausch, in dem sie als Rundfunkredakteurin lebt. Kaum kommt sie den sich überschlagenden Ereignissen in der Welt nach, empfindet sich im Daueraufbruch. Beim Asia-Imbiss begegnen sie einander, sie will ihn, er folgt ihr.
Auch den anderen setzt die Zeit zu. Die Tänzerin Joséphine Evrard möchte überall zugleich sein, verwirrt sich im Monolog über ihre Großmutter in Dada, Kollege Clément Layes jongliert mit mehreren Handys. Florian Feisel sprengt per Druckluftkanone eine Plastikblase, reißt so fix Kalenderblätter ab, bis er das Sekundentempo der Uhr egalisiert, in Echtzeit lebt: Effizient sein ist alles.
Für das Spielerpaar muss er irgendwann passiert sein, der Unfall. Er findet sie, legt sich den Hergang zurecht, vielleicht weil er sich mit schuldig fühlt, bekennt sich als Auslaufmodell, versinkt mit ihr in einer riesigen Plastikblase hinter den Raumsäulen unter niedriger Betondecke. Sie sieht sich dabei außerhalb ihrer selbst. Auch die Puppe, die Antje Töpfer mühsam gefügt und deren Schalen sie sich wie einen Panzer umgelegt hatte, ist da längst zerschossen. »Die Zeit schießt dahin, sagt der Stand der Dinge und lacht sich kaputt«, darf Molitor noch nachschieben - vor Ende jener atemlosen Zustandsbeschreibung, wenn Zeit zerfasert und zersplittert und unser Leben seine Ganzheit verliert.