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romanzero.disparates

Heinrich Heine im FITZ! Zentrum für Figurentheater Stuttgart, Oktober 2007

erschienen am 01.01.2008 von Prof. Hanns Frericks, Literaturwissenschaftler, Fachleiter für die Didaktik des Deutschunterrichts an beruflichen Schulen am Staatlichen Seminar für Schulpädagogik bei Kurzfassung publiziert in double 1/2008

„Paris, 50, Rue d’Amsterdam. Früher Morgen. Ein schwerkranker, halb gelähmter, fast blinder Mann erwacht aus seinem durch Morphium herbeigeführten Schlaf und beginnt wieder den Kampf gegen die stärker werdenden Schmerzen. Sein Mittel, sie auszuhalten statt sie mit dem stets griffbereiten Gift durch Suizid zu beenden, ist die Dichtung. In der >Matratzengruft<, wie er den Raum nennt, in dem er die letzten acht Jahre seines Lebens verbringt, setzt er sich neu mit seinem Leben und seinem Werk auseinander. Gescheitert ist die Revolution, die ihn erst verstummen ließ. Jetzt will er nicht mehr schweigen. Er entwirft eine neue Art der Dichtung. Der Dichter heißt Heinrich Heine und inszeniert sein letztes großes Werk: >Romanzero<. – Die fiktive, für das Stück erfundene, doch biografisch plausible Situation der intensiv erlebten Assoziationen im Moment des Schreibens wird durchsetzt mit Begegnungen, die an Heines >Romanzero< anknüpfen; darüber hinaus treten Figuren der Lebenswelt Heines auf sowie Frauen seiner Kindheit und seiner Gegenwart. Sie werden eingebunden in Geschichten und Imaginationen, werden erinnert und deformiert.“

So formuliert Helmut Landwehr in einem Info-Text zu seinem Stück: eine biografisch, historisch, kunsttheoretisch und künstlerisch packende Ausgangssituation eines komplex und spannend entwickelten Stückes. „Disparates“ ist die leitende Idee: Es ist dies der Kompositionsansatz des „Romanzero“. Romanzen sind die Basis, ihrerseits vielfältig gebrochen, abgebrochen, konfrontiert mit Texten zu Sterben und Tod, mit Erinnerungen und geschichtlichen Texten, mit poetologisch zu lesenden Geschichten – all dies in Form lyrischen Sprechens. Disparat ist auch Heines Arbeitsweise: Eine Vielzahl von Zitaten, Anspielungen, Quellen werden eingearbeitet, neu arrangiert, überraschend in ihren Bezügen zueinander, Konnotationen und aktuellen Bezügen. Der Ansatz des Disparaten ist zugleich auch das Konzept des Stückes, der Regie und der Szenografie.

Am Anfang steht Heine in seinen Todesängsten, seinem verzweifelten Kampf um das Leben. Ihm begegnet in seiner Erinnerung sein dichterischer Antipode Ludwig Börne, in einem scharfen Dialog werden zwei Konzepte von Dichtung miteinander konfrontiert: Mittel im politischen Kampf und Kunst in ihrer Autonomie. Es folgt ein Blick auf Heines Erotica: seine Cousine Molly, seine Frau Mathilde und seine letzte Beziehung, die er Mouche nannte. Die Rezitation und szenisch atmosphärisch fesselnde Präsentation des „Weißen Elefanten“ schließt an, vermeintlich eine märchenhafte Geschichte aus Siam und zugleich eine ironische und hellsichtige Spiegelung des Kolonialismus. Goethe tritt auf, Antipode auch er, in anderer Hinsicht als Börne zuvor, der Klassiker auf dem Podest realitätsabgehobener Größe. Und wieder die Erinnerung an Sefchen, seine erste Düsseldorfer Liebe, rührend und berührend in ihrer Zartheit, rührend zu „Perlentränen“, dem zentralen Motiv Heines in seiner Erinnerung an Jehuda ben Halevy, den großen jüdischen Dichter, und seiner Trauer um den Fall Jerusalems. Helmut Landwehr markiert hier deutlich, dass der späte Heine die jüdische Tradition als eine der Säulen Europas ins Bewusstsein gehoben hat.. Mit der durch Eifersucht geprägten Auseinandersetzung zwischen Heine und seiner Frau tauchen wir wieder ein in die biografische Situation, bis Wagner auftritt, hier als Vertreter einer romantisch rückwärtsgewandten Ästhetik und Antisemit gleichermaßen. Es folgt die Präsentation eines der interessantesten historischen „Romanzen“ aus dem „Romanzero“, das „Schlachtfeld bei Hastings“, zugleich ein bewegendes, erschütterndes Lied auf die Liebe, die in der harten Konfrontation mit den Kriegstoten im Wahnsinn endet. Disparat schließt das Heine-Jahr 1997 an, kritisch dargestellt als Event: sensationslüstern und Heine verniedlichend, verharmlosend sich einverleibend als Kulturgut. Die tatsächliche Aktualität Heines in seinem scharfen Blick auf den Neoliberalismus nach 1848, in seiner Einsicht in die Verflachung und Vernutzung der Kunst durch Kommerzialisierung, sie wird im Klartext formuliert und noch einmal poetisch dargestellt in der „Nächtlichen Fahrt“, der Absage an die Kunstperiode, an das Programm schöner Kunst. Disparat auch die Texte: Textpräsentationen, Zitate, Montagen, Erfindungen, dramatisch zugespitzt im Dialog oder Gegeneinander der Montage, monologisch als Aufschrei oder auch als liebevolle Erinnerung präsentiert. Spannend ist der Wechsel der Themen und Motive, nicht ganz leicht aber auf der Bühne zu realisieren.

Vier Schauspieler stehen auf der Bühne, eindrucksvoll wandlungsfähig in den verschiedenen Rollen drei von ihnen: Yana Novakova als Molly und Mathilde, Miriam Paul als Molly, Mouche und Sefchen, Robert Atzlinger als Börne, Goethe und Wagner. Einer bleibt der, der er ist: Uwe-Peter Spinner als Heine, eindrucksvoll in der Bandbreite seiner Emotionen und Befindlichkeiten. Alle vier sind von der Regie, Horst Lonius, variabel und intensiv in Szene gesetzt.
Der Beginn ist furios: Heines verzweifelter Monolog: „Ich will nicht sterben! Ich kann nicht sterben!“ Unterstrichen wird er körperlich, das Blut bricht aus ihm heraus, am Ende ein roter Lebensstrang, von ihm vermessen mit einer roten Leuchtröhre, sein Lebenslicht. Es folgen in überzeugend geplantem Timing und Rhythmus dichte Dialogansätze, ganz ruhige und stille Szenen (Sefchen), dramatische Ausbrüche (Heine – Mathilde), die wiederum in tief traurigem Verstummen sich auflösen (Mathilde). Es gibt das stumme Spiel, es gibt die Umsetzung nur in Bewegung, musikalisch rhythmisch gesteuert und choreografisch umsichtig geplant (Molly und Mathilde), es gibt ein chorisches Sprechen (Molly und Mathilde), es gibt die monologische und die im Wechsel von vier Stimmen dramatisch umgesetzte Präsentation von Heine-Texten. Hilfreich, nicht zu dominant erfolgt der Einsatz der Musik, breit gestreut in der historischen Auswahl, im Wechsel des Genres, in der Instrumentation; bewundernswert das Gespür dafür, ob überhaupt und für welche Szene welche Musik passen könnte: Es passt durchgehend (Dietrich Lutz). Strukturell einfache, dichte, dialogisch angelegte Szenen herrschen vor, variiert gelegentlich durch vielschichtige Szenen: der monologische Vortrag des „weißen Elefanten“ wird von Heine mimisch stumm begleitet, bildlich umgesetzt durch ein Schattenspiel (Fernost war der Ursprung des Schattenspiels) und die Projektion von Bildern, akustisch durch Töne und Geräusche, wie sie bei einer Karawane vielleicht zu hören wären und –immer wieder – durch Vogeltöne, die der Heineschen Matratzengruft: Mathilde hielt sich einen Papageien und Dutzende von Kanarienvögeln. Überladen nicht, aber komplex: Disparates.

Das Stück lebt von der Regie, die Regie hat zur Grundlage eine ungemein klare und überzeugende Szenografie (Sylvia Wanke): Was ist damit gemeint?
• Ein einfaches und variables Bühnenbild: vorne Heines Bett, ein metallenes Dreieck mit Bettlaken, daneben ein metallenes Stabdreieck, verhangen von einem weißen Totenlaken. Beides mutiert: Das Stabdreieck wird zu einem Segelboot, auf das Bettdreieck gelegt entsteht zum Schluss ein Judenstern. Vorne rechts ein großer, metallener Käfig: Mathildes Papageienkäfig; er mutiert zum Sultanspalast in der Präsentation des „Weißen Elefanten“, zum Käfig von Mathildes Eifersucht und Verzweiflung mit diesem Mann, der bis in seinen Tod hinein seine Beziehungen hat. Im Hintergrund eine metallene Guillotine, Auf- und Abgang unterschiedlicher Figuren. Den Szenenwechsel markiert die Rückwand: blutig rot zu Beginn, später auch grün und blau getönt, stimmig jeweils, professionell (Lichtgestaltung: Doris Schopf).
• Die Kostüme: Heine bleibt der, der er ist: weiß sein langes Nachthemd über einer weißen langen Hose. Die anderen Personen deuten ihre Rollen jeweils an, rot und knapp gewandet in Stöckelschuhen Heines Liebschaften, sehr bald schwarz gekleidet Mathilde; Börne, Goethe, Wagner figurativ symbolisch, nicht aber durch unterschiedliche Kostüme unterschieden, dunkle Kutten für die Mönche auf dem Schlachtfeld.
• Vor allem aber: die Figuren. Der Politclown Börne (rote Nase, schwarz-rot-goldene Luftballons) erinnert aktuell an die Inszenierungen der G-8-Gegner in Heiligendamm. Figurativ eindrucksvoll Heine mit einem Elefantenkopf, zu verstehen als koloniales Opfer: Die Projektionen während des Vortrags des „Weißen Elefanten“ zeigen, wie der Elefant von der europäischen Kultur (Tänzer in Paris) geschluckt, der Palast verkauft wird. Eindrucksvoll sind die Schattenspielfiguren des Elefanten, vor allem der dreidimensionale Kopf. Wie erkennen wir Goethe? Heine neidete Goethe den „Hausorden vom weißen Falken“: Der Falkenkopf ist Goethes Zeichen; auf dem Arm getragen, ermöglicht er einen stumm dialogischen Umgang mit dieser Figur. Wagner: Was fällt Ihnen zu Wagner ein? Eine thematische, motivische Gemeinsamkeit von Heine und Wagner? Ein romantisches Motiv? Der weiße Schwan. Als Flügelarm umgesetzt; er mutiert zu einer scharfen Messerkette, wenn Wagner in antisemitische Tiraden ausbricht (mit Texten von Heinrich von Treitschke und Adolf Bartels noch einmal mehr verschärft). Das Düsseldorfer Heine-Fest von 1997, im Kern eine Textcollage, wird – eindringlich gestaltet – von drei riesigen Kopfmasken, besser, lebendigen Puppen präsentiert: ein Kasperle-Theater in der Tat.
• Der Höhepunkt ist die Erfindung der Figur der Edith Schwanenhals zum „Schlachtfeld von Hastings“: eine kleine Frauengestalt, höchst ausdrucksvoll ihr schönes, von Melancholie oder Trauer geprägtes Gesicht, von vier Personen, die zugleich Heines Text sprechen, an acht langen Stäben geführt, geführt und gezwungen zur Suche nach dem toten, ehemals geliebten König. Ganz und gar am Text orientiert, werden die Stangen zu Pfeilen von Ediths Blicken, die das Schlachtfeld absuchen; und sie heben die Figur in ihrer Freude hoch, als sie den toten Geliebten findet. Die sensible Führung der Spieler animiert die Stabfigur zu Leben und Emotion. Ein Höhepunkt zweifellos dieser Reihe intensiver Szenen zu Heines „Romanzero“. Figurentheater auf höchstem Niveau.

Das Fazit: ein ungeheuer komplex und anspielungsreiches Stück für Heine-Kenner, für die mutmaßliche Mehrheit der übrigen: ein Stück, das von seiner Bildkraft lebt, spannend und als sinnliches Erlebnis inszeniert, ein Stück, das mit seinen Heine-Texten anregt zur Entdeckung eines großen Autors: Heine lesen, laut lesen, inszenieren!

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