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Spezielle Geschwister

erschienen am 14.06.2008 von C.B. bei Stuttgarter Zeitung

Der Hauptakteur dieses Theaterabends ist Papier. Was Papier ausmacht, wird einem erst durch diese Aufführung so richtig klar. Papier hat eine unerhört raffinierte Stofflichkeit. Es ist fest und zugleich sehr flexibel, es ist sperrig, aber zart und lichtdurchlässig. Papier macht Geräusche, raschelt aufregend. Und Papier kann verhüllen. Dies zielt direkt in das Zentrum der Figurentheaterproduktion "Bruder", die jetzt im Fitz zu sehen ist.

Das Stück hat eine absolut ungewöhnli che Thematik. Es geht um zwei Brüder. Der vierzehnjährige Marius ist seit einem halben [ahr tot, sein zwei Jahre älterer Bruder Luuk liest Marius' Tagebuch. Dort stehen Sätze wie dieser: "Ich weiß jetzt, dass ich mich in einen Jungen verliebt habe." Das Tagebuch doku mentiert, wie Marius allmählich klar wird, dass er schwul ist. Er erzählt Luuk davon, doch der Bruder wehrt ab: "Das bildest du dir nur ein." Das Verrückte an dieser Geschichte nach einem Roman von Ted van Lieshout ist, dass Luuk selbst schwul ist. Die sehr spezielle

Geschwisterkonstellation fasst Christian Glötzner (Regie und Ausstattung) in spre chende Bilder. Er selber spielt und spricht den Luuk, der buchstäblich in seinen verstor benen Bruder hineinzukriechen versucht, in dem er Marius' papierne Jacke anzieht, was nur mit Mühe gelingt. Luuk verbirgt sich einmal in einem Zelt aus Papier, denn Homo sexualität ist für die Brüder gegenüber ihrer Mutter natürlich eine Verrückung des sogenannten Normalen. Suggestive musikalische Klänge (Stefan Mertin) unterfüttern das Büh nengeschehen. Traumhaft gelingt Glötzner eine erotisch hochaufgeladene Szene. Er legt einfach zwei Scherenschnittköpfe, die für ein Männerpaar stehen, in eine Schale mit Wasser und zeigt per Overheadprojektion span nungsvolle Anziehung und Abstoßung. Theater ist auch eine Kunst der Bilder. Bei "Bruder", gedacht für Menschen ab 14, schaut man als Erwachsener hin wie ein Kind.

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