Ein beeindruckend gebauter Raum aus Text, Musik, Lärm, Licht und Dunkelheit.
erschienen am 17.09.2015 von Franziska Reif bei FIDENA PORTAL
Sibirien ist groß. 13 Millionen Quadratkilometer verheißen geradezu unendliche Weite und das wiederum lässt Einsamkeit erwarten, noch dazu in feindseliger Landschaft und bei Wetter, dem man ausschließlich von drinnen zuschauen möchte. Das Figurentheaterduo Wilde & Vogel hat zusammen mit Regisseurin Christiane Zanger ein abstrakt-sequenzenhaftes Stück auf die Bühne gebracht, zu dessen Entstehen der Gastspiel-Aufenthalt von Wilde & Vogel im sibirischen Kurgan beigetragen hat. Sibirien bildet aber gleichzeitig die Metapher für einen imaginierten Raum am Rand der Welt – den es bekanntlich auf einer Kugel nicht geben kann – in dem der Mensch an die Grenzen seiner Existenz stößt.
Von dieser Schwere ist zunächst nichts zu merken, als Charlotte Wilde und Michael Vogel die Bühne betreten, umflattert von tirilierenden Schmetterlingen. Diese fröhliche Sommerstimmung wandelt sich, bald kommt Wind auf, wird zu Sturm. Die anschwellende Lärmkulisse, die Wilde durch Hantieren mit Gitarre, Piccoloflöte oder Blasebalg mit Pfeifen fast mitten auf der Bühne erzeugt, steigert sich kakophonisch, bis sie unangenehm an jede Menge bremsende Züge erinnert.
Wo kein Lärm ist, herrscht deutlich hörbare Stille. Das Publikum sitzt gebannt, kein Rascheln, Husten, Füßescharren, die ungeteilte Aufmerksamkeit gilt der Bühne, allenfalls ein leises Lachen ist hier und da zu hören. Zum Lachen ist die Aufführung über weite Teile jedoch gar nicht. Bei der Reise um die Welt von der Barentssee und zurück ergibt sich die Komik durch stetige Wiederholung der passierten Orte im schnellen Ritt über den Erdball. Zwischendurch ist es so leise, dass man erwartet, die Gelenke der Figuren knacken zu hören, wenn Wilde sie langsam und fast schon therapeutisch zum Leben erweckt oder sie sich in liebevoll-anmutigen Bewegungen versuchen.
Der Ernst liegt nicht nur an Sibirien, Kälte und dem Schnee, der von oben herabrieselt. Er ist auch in der Frage zu finden, was mit dem Einzelnen in der Einsamkeit des weiten Raums geschieht, so alleine auf sich geworfen und menschlicher – im Sinne von zivilisatorischer – Nähe entrissen. An den Grenzen von Mensch und Zivilisation balanciert auch, wofür Sibirien synonym steht: Lager für die Verbannten in der Kälte und in lebensfeindlicher Umgebung. Die Figuren erinnern denn auch eher an Zombies als an Menschen, ihre dünnen Körper in fahlen Farben tragen greise Affenköpfe, geraten in der Leere, die kein Nichts bildet, in Wahn, beginnen, Unverständliches zu schreien. Ein Yeti glotzt und schnauft, Uniformen tauchen auf, verzweifelte Schreie erklingen, Krächzen mit heiserer Stimme, ein Sprung in der Platte untermalt Schattenspiele im Schnee, aus dem eine Figur herauskriecht und in dem sie Buchstaben hinterlässt – es liest nur keiner. Wieder schwillt Lärm heran, Blitze zucken, dann ist nur noch Finsternis, durch die dunkle Gestalten huschen und flüstern.
Am Ende bleibt nur ein sich wiegendes Pferd, das als Schatten entschwindet und mit einem melancholischen Lied aus diesem verrätselten Alptraum entlässt, dem man doch gerne noch eine Weile beigewohnt hätte.