Im Stuttgarter Theater Fitz ist George Orwells Parabel „Farm der Tiere“ als Figurentheater-Musical zu erleben. Das gelingt spektakulär und sehr sinnlich!
erschienen am 24.20.2024 von Cord Beintmann bei StZN
Ganz harmlos geht es im Theater Fitz los mit einem schön eingängigen englischen Song der traditionellen Art. Aber so gemütlich bleibt es ganz und gar nicht, im Gegenteil. In den drei Stunden eines furiosen Abends sind diverse sperrige und verstörende musikalische Klänge zu hören. Kann George Orwells berühmte Parabel „Farm der Tiere“ von 1945 als Musical funktionieren, und das auch noch im Figurentheater? Man war gespannt.
Eine scharfe Kritik am Unrechtsstaat
Auf der Bühne steht ein gewaltiger Tisch, gleichsam eine Bühne auf der Bühne. Auf dem Tisch findet erstaunliches Theater statt. Als Gerüst des Abends werden zentrale Auszüge aus Orwells Roman vorgelesen, der übrigens in der DDR bis zur Wende 1989 verboten war. Die Handlung der Satire des überzeugten Sozialisten Orwell zielt auf eine Kritik an der perversen Verbiegung sozialistischer Ideen im stalinistischen Unrechtsstaat Sowjetunion.
Orwell hat sich dazu eine nette Verfremdung ausgedacht. Auf einem Bauernhof revoltieren die Tiere gegen die repressive Herrschaft der Menschen und übernehmen selbst das Regiment. Leider schwingen die Schweine sich rasch zu einer ausbeuterischen Elite über Pferde, Hühner und Hunde auf und errichten ein Unterdrückungssystem mit ideologischen Geboten. Das Prinzip „Kein Tier soll ein anderes töten.“ wird böswillig modifiziert zu: „Kein Tier soll ein anderes Tier töten ohne Grund.“ Der neue Tierstaat agiert wie eine Menschendikatur, mit der Beseitigung von Gegnern, Abschaffung der Meinungsfreiheit und Privilegien für die Mächtigen.
Viele mitreißende Songs
Ein aufregendes Bühnenspektakel mit neun Darstellern bietet das Figurentheater Wilde & Vogel, Feisel und Genossen (Regie und Bühne: Michael Vogel). Bravourös ist die Musik geraten, von Johannes Frisch, Aline Patschke, Philipp Scholz und Charlotte Wilde live gespielt. Geige, Gitarre, Percussion, Bass und Querflöte untermalen das gruselige Geschehen mit höchst raffinierten, bisweilen unheimlichen und zugleich betörenden Klängen. Richtig mitreißende Lieder haben Aline Patschke, Stefan Wenzel und Charlotte Wilde komponiert, Chansons, Duette und knallige Chor-Songs.
Und dann die Objekte: diverse Tierfiguren oder ein winziges Häuschen, das den Zauber der Verkleinerung zeigt, die Verdichtung. Das sprechendste Objekt der Produktion ist eine zerknitterte Papiertüte mit der Aufschrift „Für eine bessere Zukunft“. Sie spricht davon, was alle Ideologien, Parteien und Regierungen versprechen, von extrem links bis extrem rechts.
Kampf mit dem Theatervorhang
Dazu ist einleuchtendes Körpertheater zu erleben. Samira Wenzel, Alexandra Gosławska und Stefan Wenzel mimen, wie es am Hof eines Herrschers zugeht. Sie schreiten bloß affektiert à la Versailles um einen Tisch, dazu erklingt prekäre Musik. Stefan Wenzel vollführt das traurige Ende des Pferdes Boxer mit beängstigendem Körpereinsatz. Beeindruckendes Objekttheater zeigt Alexandra Gosławska, wenn sie sich als Bauernhof-Diktatorin mit blasiertem Gesichtsausdruck den gesamten, zig Kilo schweren rotsamtenen Bühnenvorhang des FITZ umzuhängen versucht. Was für ein eindrückliches Bild für das peinliche Geltungsbedürfnis von Autokraten, die es ja auch in unserer Gegenwart gibt, in Europa und anderswo. Wilde & Vogel bieten ästhetische Vielfalt und staunenswerte Augenblicke, wenn der Zuschauer zu begreifen versucht, was er sieht. Zu sehen und zu hören ist sinnliches Theater. Ein Erlebnis.
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