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Wahnsinns Körpersprache!

Exzellente Tanz-Premiere im FITZ: Eva Baumann erforscht in „alieNation“ das Miteinander in einer kollabierten Welt.

erschienen am 31.03.2023 von Julia Lutzeyer bei StZN

Diesige Luft. Wie lange Tropfsteine hängen mit Textilien gefüllte Gazesäcke von der Bühnendecke des Stuttgarter Figurentheaters FITZ. Im Hintergrund ein Wald im Kopfstand. Es ist das Biotop eines viergliedrigen Wurms, der trotz seiner in puderfarbige Kokons eingearbeiteten Rückgrate wirbellos anmutet. Die Frage, ob das Publikum bei dem Gastspiel der Tanzperformance „alieNation“ von Eva Baumann mit einem Urzustand oder Endzeitszenario konfrontiert ist, klärt der Untertitel „Strangers in a world that they themselves have made“ (Fremde in einer Welt, die sie selbst erschaffen haben).

Doch noch mehr als die brisante Thematik über die Zerstörung der Natur als Lebensgrundlage samt zwischenmenschlicher Bindungen fasziniert in der am Donnerstagabend erstmals gezeigten Produktion eine ganz und gar eigenwillige Körpersprache. Im Sinne einer Bewegungsforscherin lotet die Choreografin Eva Baumann, die hinter dem Label „Cie. Zeit/Geist“ steht, mit ihren durchweg starken Protagonistinnen die Grenzen des Möglichen aus. Köpfe verschwinden zwischen Oberschenkel, Hinterteile ahmen die Fortbewegung eines Regenwurms nach oder glotzen einen wie Facettenaugen von Insekten an. Da verselbstständigen sich aus einer amorphen Masse Einzeller, bilden Gliedmaßen aus und finden schließlich zum aufrechten Gang. Das Zeitlupentempo der mal weichen, mal handkantscharfen Minimal-Gesten mit maximalem Effekt täuscht fast darüber hinweg, dass hier eine rasante Evolution im Gang ist.

Die Kipppunkte, die von einem Zustand in den anderen führen, liegen direkt unter der Haut und kommen im Schwarm. Finger und Hände werden ruckartig zu Fühlern oder Saugnäpfen, Arme zu Kufen, Vogelstrauß-Hälsen und Schlingpflanzen. Wie ferngesteuert verflechten sich Körper zu einer vielfüßigen Kreatur, docken wieder aneinander an. Ab und an erinnert ein angedeuteter Handkuss oder eine andere Geste an Gepflogenheiten einer fast vergessenen Zivilisation. Der Musiker Michael Berentsen bettet dieses Geschehen in einen Klangraum voller Naturgeräusche. Vogelgezwitscher, Meeresbrandung, Windböen und zähflüssiges Blubbern sind zu hören, ergänzt durch scheppernde Materialien und Klaviermusik. Ganz klar: Mit „alieNation“ glückt Eva Baumann und ihrem Team ein starker Auftakt der Trilogie „Zeit/Geist“. Schon jetzt darf man auf die Fortsetzung gespannt sein. So dürfte es auch das Premierenpublikum empfunden haben. Anhaltender Applaus.

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