Menü

Der Lebenskreislauf als Objekttheater

Was mit den fehlenden Fingern eines Großvaters begann, geht in die zweite Runde: Um die neue Produktion „Unwucht“ zu erleben, wandert das Fitz-Publikum vom Tagblattturm zur Kirche St. Maria.

erschienen am 05.11.2021 von Thomas Morawitzky bei StZN

Stuttgart - Am Anfang standen autobiografische Erfahrungen, der Wunsch, Vergangenes zu begraben – am Ende steht der Tanz mit der Schwerkraft an heiligem Ort. Sarah Chaudon und Florian Feisel inszenierten vor zwei Jahren im Stuttgarter Figurentheater Fitz eine theatralische Beerdigung, versenkten dort Streichholzschachteln im Gedenken an die fehlenden Fingerglieder eines Großvaters. Die Beisetzung als Performance warf Fragen auf, hinterließ Zweifel: Kann ein solch persönlicher, endgültiger Akt Theater werden?

Nun kehren die Spieler zurück, haben ihr Anliegen überdacht und weiterentwickelt, spielen nicht mehr das Ende, sondern die ewige Wiederkehr.

Publikum geht mit Kopfhörern zur Kirche St. Maria

Die Geschichte jener ersten Inszenierung hören die Besucher des Fitz am Abend der Premiere von „Unwucht“ über Kopfhörer. Man hat sich am Theater getroffen, gut 30 Menschen, man geht mit leuchtenden Schalen auf den Ohren und Stimmen darin hinüber zu St. Maria, der Weg ist kurz und Teil der Inszenierung. Sarah Chaudon und Florian Feisel, deren Zwiegespräch man auf diesem Weg gelauscht hat, stehen am Portal und erwarten die Zuschauer. Sie bereiten sich vor auf ihr Spiel, sie malen mit langen Pinseln Linien, Kreuze auf ihre Kleidung, ihre Gesichter. In der Kirche warten vier Räder, „ramponierte Sportgeräte“, wie das Programm verrät.

Es sind sogenannte Röhnräder, doppelte Reifen, verbunden durch zahlreiche Holzleisten, menschengroß eines von ihnen, abgestuft kleiner die anderen. Zunächst rollen die Räder lange hin und her, laufen dabei nie ganz rund. Chaudon und Feisel treten in sie ein, umkreisen, erklimmen sie, verbinden sie durch Seile, hantieren mit Akkuschraubern. Sie spielen mit der Form der Bewegung, ihrer Irritation, erkunden ihre Möglichkeiten.

Theaterstück kommt fast ohne Geräusche aus

„Unwucht“ ist eine Performance in fast völliger Stille – zumeist vernimmt der Besucher nur das leise Sirren der Räder auf dem Kirchenboden; manchmal schlägt eine Glocke, manchmal bringt ein Rad, das krachend umfällt, ein Moment der Komik. Später klingt Musik aus einem Radio.

Und St. Maria, erfüllt von wechselnden Lichtquellen, die die Schatten der Räder und Menschen übergroß auf die Wände werfen, wird zum Ort einer eindrucksvoll verspielten Meditation.

Betrifft: