Konzertantes Tango-Theater im Fitz
erschienen am 01.05.2010 von Annik Aicher bei kultur
Lautlos öffnet sich der Deckel und ein zartes Wesen blickt in die Runde. Es ist ein Gebiss. Mit Spinnenbeinen und großen Schuhen. Sprechen kann es nicht, dafür aber kräftig beißen: klack-klack. Seine kleine Kistenwohnung hat das Gebiss mit Fotos von Carlos Gardel tapeziert. Der Sänger und Komponist war der große Weltstar des argentinischen Tangos. Ein Junge aus ärmlichen Verhältnissen, dessen Leben so dramatisch wie seine Musik verlaufen sollte. Den Lungensteckschuss in einer verrauchten Bar überlebte er, das Flugzeugunglück im Jahr 1935 nicht. Ein Gebiss, das in einen Tango-Abend einführt? Schon gleich am Anfang macht »Bailando el amor« unter der Regie von Britt Jürgensen klar, dass hier keine brave Musikstunde abgehalten wird. Sondern dass es originell und kraftvoll zur Sache geht. Dafür sorgen nicht nur die skurril-komischen Kreaturen der Puppenspielerin Alice Therese Böhm, sondern auch das Quartett ¿faltatango?. Vier brillante Musiker aus Stuttgart, Freiburg und Trossingen, die Teil ihrer Instrumente zu sein scheinen. Die Töne, Rhythmen, Melodien in den Raum schleudern, mit Leidenschaft und Wucht, mit Humor und Begeisterung. Wie furios ist etwa das Violinenduell von Christiane Holzenbecher und Daniel Kubier. Bei Astor Piazzollas »La muerte del ángel« kratzen, keifen, schaben, quietschen die Geigen gegeneinander und miteinander, fetzen sich in einem irrwitzigen Musikerstreit und Geschlechterkampf. Auch wer kein Tango-Kenner ist, fühlt, worum geht: um Stolz, Leidenschaft, Eifersucht, Tod. Assoziativ zu diesen Themen erzählt Alice Therese Böhm die Geschichte zweier Brüder, die sich in der Liebe zur selben Frau verstricken. Mal heftet sich die Puppenspielerin die Gummigesichter der Geschwister an ihre Cowboystiefel und lässt diese mit dem Kopf der Geliebten Fußball spielen, mal schlüpft sie selbst mit Masken in die Rolle der groben Machos. Auf die Schippe genommen werden die brodelnden Mann-Frau-Beziehungen bei eingeschobenen Tango-Kasperle-Stücken. Ein lustiger Running Gag, bei dem sich eine Handpuppen-Dame gegen Belästigung nonchalant mit einem Hammer wehrt. Harmonischer wird es, wenn die Träume der Protagonisten als weiße Marionetten durch den Raum schweben. Oder Christiane Holzenbecher und Daniel Kubier schnulzig-froh »Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt« singen. Doch dann bricht jäh »Todo Buenos Aires« von Astor Piazzolla herein und jagt Puppen wie Musiker zurück in die wilde Welt des Tangos. Mitreißend gespielt von Sarah Umiger mit fliegenden Fingern am Klavier und von Holger Stodtmeister am Kontrabass, im perfekten 20er-Jahre-Styling. Am Ende ist nur noch derTod quicklebendig, der mit feinen Fingerchen Musiker und Puppenspielerin hinweggefegt hat. Zum Schluss steigt er in die Kiste und schmettert dem Gebiss Carlos Gardeis Paradelied »Volver« (Zurückkehren) entgegen. Der Deckel schließt sich. Aber der Tango-Mythos singt weiter.