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Göttliche Geschichtskomödie

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Göttliche Geschichtskomödie

Die "Magic 20th Century Tour" bei der Figurentheater-Festwoche fordert hohe Konzentration

Von Petra Bail

Stuttgart - Zwei Jahre lang gingen die vier Darsteller in Klausur, um das internationale Theaterprojekt "Magic 20th Century Tour" stemmen zu können. In vier europäischen Ländern laborierten die Künstler aus Deutschland, Italien und Frankreich an der Geschichte des 20. Jahrhunderts, führten Gespräche vor Ort und konzipierten ein turbulentes Stück, das mittels Schauspiel, Figurentheater, Musik und Tanz die wesentlichen Ereignisse in gut einer Stunde im Rahmen der Festwoche des Figurentheaters im Stuttgarter Fitz über die Bühne jagt. Dantes "Göttliche Komödie" gibt mit den Abschnitten Hölle, Fegefeuer und Paradies die literarische Vorlage, an der man sich entlanghangelt. Die verbindende Sprache ist Englisch.

Rasante Jagd durch ein Jahrhundert

Selbst der aufgeklärte Theatergänger muss sich stark konzentrieren, um die Utopien, Kriege, wissenschaftlichen Experimente und philosophischen Lehren auch nur annähernd einordnen zu können. Das Stück ist für Menschen ab zehn Jahren gedacht. Die dürften allerdings ihre Schwierigkeiten haben, der rasanten Jagd durch das vergangene Jahrhundert folgen zu können, allein schon weil man - entgegen den Angaben der Veranstalter - zumindest rudimentäre Englisch-Kenntnisse haben sollte. Nur durch die hervorragende darstellerische Leistung erschließt sich die durchaus amüsante Geschichtscollage jedenfalls nicht.

Angelegt ist das Historienspektakel als närrische Schulstunde, in der die Schüler als archetypische Clowns von den geschichtlichen Ereignissen gebeutelt werden. Die Fächer Literatur und Geschichte stehen Mathematik und Forschung gegenüber. Rosa Luxemburgs "Freiheit des Andersdenkenden" gipfelt in dem Versuch, einen Schokoladenkuchen gerecht zu teilen und dem Slogan: "Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Schokolade". Die Mobilmachung des Ersten Weltkriegs lässt aus dem unschuldigen Schüler einen hohlköpfigen Kindersoldaten werden. Während die Propaganda Heldenhaftigkeit fordert, verlangt die Klassengemeinschaft nach "Schokolade for freedom".

Die Putzfrau setzt eine ganze Fußballmannschaft in die Welt. Die Kinder werden von fremden Mächten entführt. Ein Hitlerbärtchen taucht auf, Naziparolen werden ins Publikum gebellt. Die Dokumentation des Todes im Zweiten Weltkrieg wird in nackte Zahlen umgesetzt: 40 000 Tote bedeuten 300 Tonnen Fleisch und Knochen, 180 000 Liter Blut und 148 000 Lebensjahre, die nicht gelebt wurden. Es geht um Sozialismus und die Befreiung der Putzfrau aus der Arbeiterklasse. Auch Brecht findet in Abwandlung Einlass: "Erst kommt das Fressen, dann der Fernseher, dann geht's ab ins Bett." Die Forderung nach einer besseren Welt für Kinder bedeutet neun Quadratmeter für jedes und einen Garten für alle. Mit Martin Luther Kings Satz aus seiner weltberühmten Rede "I have a dream" von 1963 wagen Annette Scheibler, Isabelle Hervouet, Paolo Cardona und Fabrizio Cenci einen Blick in die Zukunft. Für manche freilich stellt sich der Traum schon in Form einer neuen Tapete dar.

Die Internationale Festwoche des Figurentheaters dauert bis 2. April. Morgen, 20.30 Uhr, ist Richard Bradshaw mit "Bradshaw's Shadows" zu Gast, am Donnerstag zeigt Vagabu das Stück "Kratochvil". Karten unter 0711/24 15 41.

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