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Unordnung im göttlichen Universum

erschienen am 04.04.2017 von Brigitte Jähnigen bei Stuttgarter Zeitung/Nachrichten

Wundersame Verwandlungen und eine Sinfonie des Zitterns: Das Stuttgarter Figurenfestival Newz hat begonnen Nimm das Leben spielerisch: Mit den Stücken „Trickster“ und „Du Tremblement“ haben junge Figurenspieler beim Auftakt des Festivals Newz zum Perspektivwechsel eingeladen.

Stuttgart. „Alles muss sich ändern“: Das behaupten die Akteure von Newz, dem „Fest der Uraufführungen“ am Stuttgarter Fitz mit ihrem diesjährigen Motto. Wenn Bestehendes brüchig wird, der Boden schwankt, muss sich der Mensch dem Ungewissen stellen. Und er muss wieder lernen, das Leben spielerischer zu nehmen und Ängsten Paroli zu bieten. Das Figurenfestival Newz provoziert in seinen sieben Uraufführungen und einer bespielten Installation mit Regelbruch, Perspektivwechsel und der Verführung zu verborgenen Gelüsten.

„Nein!“ gellt es aus den Reihen des Publikums. Jan Jedenak, der in seiner Performance in die Rolle der mythologischen Figur eines Tricksters geschlüpft ist, klemmt mit Kopf, Armen und einem Luftballon-Phallus in den Löchern einer Jahrmarkts-Installation. Weil das Publikum ihm die Amputation des Phallus mit einer Armbrust verweigert, greift der Figurenspieler zur Selbsthilfe. Musikalisch-kommentiert durch das Volkslied „Mein Vater war ein Wandersmann“, hat Jedenak sich mit Wolfsmaske und Klauenstiefeln in ein böses Tier verwandelt. Masken dienen auch in anderen Szenen als Symbol für Mutationen.

Eine Stunde lang spüren Jedenak und seine Gruppe „Dekoltas Handwerk – Theater figuraler Formen“ den Facetten eines Tricksters nach. Mal Geist, mal Tiergestalt, mal Halbgott lockt Jan Jedenak als Moderator, Erzähler und Spieler seine begeisterten Zuschauer in Versuchssituationen, beginnt die Lust an der Manipulation mit einem Handpüppchen mit gelbem Wuschelkopf und leiht ihm seine Fistelstimme. Mit ihrem zwiespältigen Charakter bringen die Trickster Unordnung ins göttliche Universum, provozieren Konflikte. Gewandet in eine rote Mönchskutte lässt Jan Jedenak Rauchgeister auffahren, fordert zum Wurf mit Bällen in sein Gesicht auf. Endlich getroffen, fällt die erste Maske, dann die zweite, eine dritte – der multiple Typ ist entlarvt. „Fang mich, wenn du kannst“: Die Aufforderung zum Mitspielen funktioniert. Jedenaks wundersame Metamorphosen, an denen Florian Feisel mit einem raffinierten Lichtspiel und Morgan Daguenet mit einem Supersound beteiligt sind, erinnern an zirzensische Versuchsanordnungen mit trickreichen Bühnenaufbauten. Ruhig bereitet das Team jede Szene vor, das Publikum schaut, staunt, spielt mit oder verweigert sich.

„Ich will ja Intensität, aber ich hab zuviel Angst“ – das mit weißer Farbe auf einer hölzernen Bühnenwand aufgetragene Bekenntnis ist nur eine von vielen Offenbarungen, mit denen die Zuschauer in der Inszenierung „Du Tremblement – Vom Zittern“ konfrontiert werden. Studierende des Figurentheaters und des Instituts für Jazz und Pop der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst und ihre Kollegen von Les ateliers du spectacle aus Paris gehen dem Phänomen Zittern nach. Es wird im Selbstversuch erzeugt, als evolutionäre Notwendigkeit erklärt, als Atem der Dinge, aber auch als Folge erlittener Kränkungen.

Da zittern am Samstag gleich zu Beginn des Abends nackte Beine und Füße unter den Fransen des Samtvorhangs im Wilhelma-Theater. Da wackelt später das Kaffeegeschirr in den Händen der Spieler. Ein Fell wird durch einen eingeschalteten Wäschetrockner bewegt, Stühle und Tische an unsichtbaren Fäden gezogen. Atemlos folgen die Zuschauer den akku- und strombetriebenen Experimenten. Und das Beben der Musiker auf ihren Instrumenten erzeugt eine jämmerliche Kakofonie. In immer neuen, wunderbar absurden, auch turbulenten Szenerien entsteht eine Sinfonie des Zitterns.

Doch „Du Tremblement“(Regie: Anne Ayçoberry, Jean Pierre Larroche) will nicht nur amüsieren. Fragen wie „Für wen zittern wir eigentlich?“ und „Bin ich das Zittern?“ suchen Antworten in der Psychotherapie und der Philosophie. Sören Kierkegaards Schrift „Furcht und Zittern“ über das gescheiterte Verhältnis des Menschen an sich selbst wird zitiert, Sigmund Freud zurate gezogen. „Das ist meine Mutter“, weist eine Spielerin auf eine nackte Tischplatte. „Und da mein Vater“ auf einen kleineren, gedeckten Tisch. Im Gegenzug wird eine Studentin in der Rolle einer Mutter behaupten: „Es liegt nicht an mir, ich habe absolut keine Schuld.“

Vorgetragen wird die Weitergabe der narzisstischen Kränkungen der Menschheit von Generation zu Generation. Und dann bekommt ein rosaroter Wackelpudding die Rolle eines Mitspielers. Vielfach zum Schwabbeln gebracht, löst er symbolhaft verschiedenste Bilder der Angst aus. Das Finale hat versöhnenden Charakter: Eine archaische Melodie bittet um Erlösung für alle. Und das vorwiegend jüngere Publikum im Wilhelma-Theater ist begeistert.

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