Ensemble Materialtheater Stuttgart & Kaufmann & Co. Berlin zeigen eine heitere Hommage an das zivilisierteste Möbelstück der Kulturgeschichte
erschienen am 18.10.2023 von Petra Bail bei Fidena Portal
Es gibt so unendlich viele von ihnen: Esstische, Couchtische, Beistelltische, Nierentische, Konferenztische, Gartentische, Klapptische und Nachttische – und es gibt Männertische. Friedrich ist so ein Exemplar: sehr maskulin, wenn man ihm die passend gemusterte Tischdecke auflegt. Ansonsten der Traum jeder Ehefrau: immer da und duldsam. So wünschte sich die Gattin ihren ewig abwesenden Friedrich. Eines Nachts träumte sie, dass er sich nicht mehr bewegen kann. Und zack: aus dem Traum wurde Wirklichkeit. Am nächsten Morgen ist der Ehemann zum stattlichen Tisch mutiert. Jetzt kann sie so viel Zeit mit ihm verbringen, wie sie mag. Sie verstehen sich prächtig; verständlich, wenn man sieht, wie liebevoll er auf der Bühne mit einem Bio-Mittel poliert wird.
Die Ehefrau ist aber nicht die Einzige, die Erfahrung mit Tischen hat. In der darauffolgenden Szene, einer Therapiegruppe für Tischgeschädigte, tut sich so mancher tiefenpsychologische Abgrund auf und es wird deutlich, wie stark so ein Möbel ins Leben eingreifen kann. Die ebenso philosophische wie fantas-tische Szenencollage über Tischkultur von Ensemble Materiatheater Stuttgart & Kaufmann & Co. Berlin ist ein humorvoll-absurder Abriss über ein Möbelstück, ohne das viele Vorgänge nicht denkbar wären. Man stelle sich ein Leben ohne diese maßgebende Ordnungseinheit vor: schreiben, Büroarbeit, essen, kaffeetrinken, brotschneiden, Kartenspielen oder bohren ohne die Platte mit den vier Beinen. Echt schwierig. Wenn eine Hand die Kaffeekanne hält, die andere die Unterasse mit Tasse – da braucht‘s ohne Abstellmöglichkeit schon Schützenhilfe von weiteren Personen, die abwechselnd die Kanne halten, um daraus ein genussvolles Kaffeekränzchen zu machen.
Alexandra Kaufmann, Eva Kaufmann, Sigrun Kilger und Annette Scheibler scheinen die Ideen nicht auszugehen, was man mit einem Tisch anfangen kann. Der originelle Grundgedanke wird erfindungsreich weitergesponnen, denn am Anfang war gar kein Tisch. Der Urmensch lebte am Boden und aß auf dem Boden. Als er sich aufrichtete, wäre er fast ausgestorben; ans Essen kamen nur noch diejenigen, die Yoga konnten. Also brauchte es ein Zwischenstück zwischen Mensch und Boden – so wird es in dem witzigen kulturhistorischen Abriss erzählt, der einen liebevollen Blick auf die Entwicklungsgeschichte des Tisches wirft. 75 Zentimeter schienen dafür ideal. Ins absolut bezaubernde Fantasiespiel kommen jetzt noch Tiger, Antilopen und Götter hinzu. Die Zuschauerinnen und Zuschauer können das nun glauben oder nicht; jedenfalls kriegen die beiden Tiger die Antilopenhörner ins Maul gestopft, die Götter werden sauer, weil Tiger mit langen Zähnen blöd aussehen. So werden aus den höhenmäßig passenden Hörnern vier Tischbeine, die die Platte tragen, welche die politische Gesellschaftsordnung subtil deutlich macht: die einen tafeln am Tisch, die anderen fallen drunter. Und das wird auf der Bühne auch gezeigt. Der herrlich absurde Reigen mit Masken, die an Commedia dell’arte erinnern, ist so charmant und klug skizziert, dass es ganz egal ist, wenn nicht jede Episode zündet. Manches hat in den fast eineinhalb Stunden Längen, obwohl viel Bewegung im poetischen Spiel der vier Darstellerinnen ist.
Wunderbar, wie spielerisch die Sprache in diese Mischung aus Figurentheater und Schauspiel einfließt. Die klug erfundenen Irrwitzgeschichten aus der Materialtheater-Wunderkiste machen Spaß und führen so manche Verhaltensweise vergnüglich ad absurdum. Tische bringen die Menschen zwar äußerlich zusammen, können aber zum Beziehungsproblem werden, wenn sie sich allzu energisch dazwischenschieben. Manche Tafel besteht auf ihre Funktion: Ein Fünf-Meter-Tisch will eine Familie um sich wissen und nicht Mittelpunkt im einsamen Singlehaushalt sein. Die Knigge-Regeln sind ein weiterer willkommener Anlass, mit viel Spielfreude die Sinnlosigkeit von Verhaltensnormen so ironisch auf die Bühne zu bringen, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer einfach lachen müssen, wie so häufig an diesem unbeschwerten, poetisch-unterhaltsamen Abend.
Fidena Portal